Kinder brauchen Grenzen

Meine Frau hat im Kindergarten, in dem sie gearbeitet hat, immer wieder eine sonderbare Erfahrung gemacht. Dieselben Kinder, die vormittags in der Gruppe ganz liebevolle und liebenswerte Kinder waren, die sich gerne und gut in das Gruppengeschehen eingebracht haben, verwandeln sich, sobald ihre Eltern sie aus dem Kindergarten abholen wollen, in wahre Furien. Mit Einwortsätzen kommandieren sie ihre Eltern herum (Schuhe! Jacke!…) und verhalten sich ihnen gegenüber völlig respektlos. Wie ist so etwas möglich? Viel liegt meiner Meinung nach daran, dass im Kindergarten klare Regeln herrschen, wie wir miteinander umgehen, miteinander reden, wie wir gemeinsam essen, spielen etc, die Kinder zu Hause stattdessen oft eher diffuse und verwaschene Regeln erleben. Sie wissen einfach nicht, woran sie sind, wie „der Laden hier läuft“. Als Eltern müssen wir lernen, klar zu sagen, was geht und was nicht geht, wir müssen auch lernen, deutlich nein zu sagen, Grenzen zu setzen. Viel zu oft versuchen wir, mit Kindern im Kindergartenalter zu diskutieren, argumentativ Regeln aufzustellen, aber damit überfordern wir die Kinder.

Eine besonders extreme Form der Überforderung hat meine Frau im Kindergarten auch des Öfteren erlebt. Da fragen die Eltern ihre Kinder: Wo sollen wir denn im Urlaub hinfahren? In die Berge oder an die See? Sie machen ihre Urlaubsentscheidung von der Entscheidung eines Kindergartenkindes abhängig. Das Schlimmste aber, wenn der Urlaub doch dem Kind nicht so gefallen hat: „Aber du wolltest doch an die See?“. Nun ist das Kind auch noch verantwortlich für die falsche Entscheidung. Eigentlich wollten sie dem Kind doch alles recht machen, und machen damit eher alles falsch. Ein Kleinkind ist mit solch einer Entscheidung schlicht überfordert, es denkt bei „See“ an Baden, und das macht natürlich Spaß. Aber dass ein Strand auch ein Steinstrand sein kann, dass es eklige Quallen gibt und das Wasser ziemlich kalt ist, das kann ein Kind ja nicht wissen. Vielleicht wäre eine Unterkunft in den Bergen mit Schwimmbad in der Nähe viel besser gewesen.

Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, natürlich sollen wir unsere Kinder ernst nehmen, ihnen auch deutlich signalisieren, dass ihre Meinung uns wichtig ist, aber wir Eltern haben auch die Aufgabe, unsere Kinder zu erziehen, Regeln aufzustellen, für das Einhalten dieser Regeln zu sorgen, und auch manchmal deutlich „nein“ zu sagen. Oft haben wir aber Angst, Grenzen zu setzen, weil wir befürchten, uns damit unbeliebt zu machen. Meiner Erfahrung nach ist diese Sorge unbegründet.

Kinder brauchen Orientierung, um sich in dieser Welt zurechtzufinden, und diese Orientierung müssen wir ihnen geben. Wir müssen ihnen Werte vorleben, und auch Grenzen benennen. Sicher ist das auch mit Konflikten verbunden, denn Kinder wollen ihre Grenzen austesten und reiben sich an uns, aber auch das ist notwendig, und wir müssen das aushalten lernen. Grenzen gezeigt bekommen, Grenzen austesten, in Frage stellen, sich gegen sie auflehnen, aber auch Grenzen und Begrenztheit akzeptieren lernen, all das ist wichtige Lebenserfahrung, die wir den Kindern vermitteln müssen.

Ich habe oft erlebt, dass in kinderreichen Familien der Umgang mit Grenzen anscheinend einfacher ist; jeder spürt da, dass meine grenzenlose Freiheit endet, wo ich die Freiheit anderer verletze. Ich darf nicht nur mein eigenes Wohl sehen, sondern muss auch das Wohl meine Geschwister, Familien, Freunde, meiner Mitmenschen im Blick haben. Dies ist etwas, was wir unseren Kindern vor allem vorleben sollten. Das „darüber reden“, auch das gemeinsame aufstellen von Regeln, sollte natürlich auch irgendwann kommen, aber erst, wenn die Kinder alt genug dafür sind. Dies glaubhafte Vorleben von respektvollem Umgang mit unseren Mitmenschen ist nicht einfach, und wir dürfen gerne im Gebet Gott um seine Hilfe bitte; ihn darum bitten, dass wir unsere Mitmenschen ein wenig mit den liebevollen Augen sehen lernen, mit denen Gott sie ansieht.